newa

23. Juli 2005

snap shot 8

Filed under: Allgemeines — bettina @ 10:48

eine theorie ueber das verhaeltnis von turbokapitalismus und launenhaftigkeit

privet!

der kapitalismus rollt seit den 90ern turbomaessig durch russland. konnten wir uns seit ende der 80er jahre noch allmaehlich an die dominanz des geldes gewoehnen, wird den osteuropaeischen laendern diese gnade (wenn es denn eine ist…) nicht gewaehrt. nach dem zusammenbruch des kommunistischen regimes herrschte und herrscht immer noch orientierungs-, plan- und vor allem strukturlosigkeit. in diesem chaos uebernahm die oekonomische logik das ruder und dreht es seitdem schneller und schneller.

das wirkt sich zum beispiel im wohnsektor einerseits dadurch aus, dass schnell und billig wolkenkratzer hochgezogen werden, das land wird meist dem baltischen meer mehr und mehr abgerungen. die wohnungen in diesen gebaeuden werden dann teuer verkauft und vermietet, wobei sich keiner weiterhin darum kuemmert, dass die haeuser ausreichend mit elektrizitaet versorgt werden oder dass das kanalsystem auch wirklich funktioniert. speed kills.
andererseits sitzen zahlreiche verarmte mieterInnen in schmutzigen, verseuchten, schimmeligen wohnungen mit anderen, ihnen fremden und nicht immer zugeneigten menschen (subsummiert unter dem begriff: “kommunalka”) und warten, dass die stadt ihre versprechungen einloest und erstens das haus saniert und ihnen zweitens eine neue wohnung zur verfuegung stellt. (gilt nur fuer petersburger, nicht fuer zugereiste..)
meine lieblingsobjekte, die kioske, in denen du so ziemlich alles kriegen kannst, werden immer gleicher, standardisierter und verschwinden schliesslich immer mehr und mehr, um supermaerkten platz zu machen. (koennen wir uns noch an die ‘tante-emma-laeden’ erinnern und an die vielen unterschiedlichen produkte, die es damals gab, bevor die lebensmittelketten alles vereinheitlichten und wir heute nur noch das kriegen, was die allgemeinheit moechte..) die fastfoodketten haben die stadt schon im griff, macdonalds z.b. macht in russland das groesste geschaeft und moechte zu den bestehenden 33 filialen in pieter noch zweimal so viel hinzufuegen… was fuer die meisten touristInnen angenehm ist, weil jede stadt ihrer eigenen zu aehneln beginnt, (“gehen wir heute pizza oder sushi essen..”) was ein diffuses heimatgefuehl weckt, welches mit vermeintlichen sicherheiten verbunden ist, ist fuer die einwohnerInnen verheerend. ihr einkommen ist in den letzten jahren kaum gestiegen, doch die preise gleichen immer mehr westlichen standards. so ist pieter im vergleich zu paris teurer.

die strukturlosigkeit treibt die skurillsten blueten. im taeglichen miteinander reagieren viele menschen mit stoerrischer launenhaftigkeit (vor allem die frauen, die zusaetzlich zu den alltagsschwierigkeiten aufgrund des immer noch dominanten patriarchats wenig spielraum bekommen, zu leben, wie sie leben moechten). so unangenehm unzuverlaessigkeit im privaten bereich ist, so aergerlich ist es im beruflichen.
so empfindet es jedenfalls meine germanische seite, die den arbeitsbereich kontrolliert und fuer die ‘ein termin ein termin’ ist und ‘ein handschlag ein handschlag’ und die nach plan arbeiten moechte. meine romanische seite freilich moechte ‘dolce vita’ und ‘laissez-faire’ und ausschliesslich das und immerzu. zwischen diesen extremen muss ich zerrissene pendeln und einmal dies und einmal das leben bzw. arbeits- und privatbereich strikt trennen. ein miteinander ist schwer moeglich. (fuer trekkies: halb mensch/halb klingonIn 😉 )

meine russischen kollegInnen (die in einer imitation eines bueros sitzen und versuchen, einen gewissen tagesablauf zu etablieren, aber aus sicht der germanischen arbeitsmoral “nur arbeiten spielen”) sind wetterwendig und haben mir von der ersten sekunde an zu verstehen gegeben, dass ich nie mit etwas rechnen kann, immer nur mit dem unvorhergesehenen. vereinbarungen werden nicht einfach nur nicht eingehalten, sie werden vergessen. entschuldigungen gibt es keine, wofuer wenn es vergessen ist… was heute funktioniert, muss morgen noch lange nicht gehen.. wiege dich niemals in sicherheit, das unverhoffte kommt bestimmt.. und wenn du mit dem unmoeglichsten rechnest, wird es wieder anders sein. ich bin durch eine harte schule der flexiblitaet gegangen und lerne immer noch. und haenge wie eine bungeespringerIn mit dem kopf nach unten in den seilen. “he,” rufe ich, “ich bin gesprungen.. wie lange soll ich da noch haengen.. koennte mich jetzt jemand bitte wieder hochziehen..” (kann geschehen oder auch nicht)

vielleicht sollte ich tatsaechlich alles anders herum betrachten: die russInnen haben sich ihr eigenes system aufgebaut, das aus chaos und regellosigkeit besteht. in diesem kleinen universum ist jede/r die/der herrscherIn. vielleicht ist das eine art von freiheit, von der wir, im sogenannten westen, nicht wissen, dass wir sie haben. wir leben unsere strukturen und diese sind illusion. (die frage ist dabei aber: schauen wir in unsere vergangenheit oder in unsere zukunft, wenn wir in den osten blicken. 😉 )

poka und baba – euer “alien”
bettinuschka

ps: meine lieblingsgeschichte ueber eine kollegin, die ich immer nur “moody-L” nenne:

L. hat kein geld um zu ihrer mutter in den sueden auf urlaub zu fahren. sie will aber dorthin. zwei monate bevor sie fahren moechte, ueberlegt sie fieberhaft, wie sie zu geld kommen kann. da faellt ihr ein, dass ihre freundin T. beim film als maskenbildnerin arbeitet. sie ruft also T. an und erzaehlt die misere, worauf T. meint, dass sie in den naechsten zwei monaten eine mystery-serie a la “akte x” drehen wuerden und sie versuchen koennte, fuer L. eine statistInnenrolle aufzutreiben. drei wochen spaeter hat sie es geschafft. sie koenne L. als zombie-statistin bei einer zombie-hochzeit unterbringen. nur einen tag arbeit und die flugreise ist bezahlt, jubelt L. und erzaehlt allen freundInnen und bekanntInnen davon. natuerlich ist sie der star ihrer umgebung. L. arbeitet als zombie, rufen sich die leute schon auf der strasse zu. L. wartet taeglich auf den ersehnten anruf der filmgesellschaft. T. hat gesagt, sie wuerden einen oder zwei tage vor ihrem drehtag anrufen. ein monat spaeter ist es endlich so weit. das telefon klingelt. eine stimme fragt nach L. und L. sagt, he, das bin ich, wer dort. panorama-film, sagt die stimme am telefon, wir sind froh, ihnen mitteilen zu koennen, dass sie morgen um 7 h frueh am set erwartet werden.
ich stehe NIEMALS vor 9 h morgens auf, erwidert L. und legt auf.

L. faehrt nun mit dem zug zur mutter, was ungefaehr 3 tage dauert, aber guenstiger ist.

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